Die Rolandstatue in Brissago ist ein Geschenk des
damaligen, letzten deutschen Kaisers Wilhelms II. an Ruggero Leoncavallo, seinen Lieblingskomponisten, für die Oper „Der Roland von Berlin“ (Il Rolando
di Berlino), die am 13. Dezember 1904 in Berlin uraufgeführt wurde. Die Statue stand seit 1905 für nunmehr hundert Jahre im Garten der ehemaligen Villa
Myriam, dem Wohnsitz Leoncavallos in Brissago. Sie musste vor kurzem einer geplanten Überbauung weichen und hat ihren neuen Platz vor
dem Palazzo Branca-Baccalà gefunden, in dem seit dem 13. April 2002 das Museo Leoncavallo untergebracht ist. Die Dislokation angeregt hat
Brissago-Freund Kurt Jaworski, der Präsident des Tessin-Clubs Deutschland. Auch die zweite Skulptur aus den Giardini Leoncavallo, die Tänzerin Zazà aus
der gleichnamigen Oper, hat unterdessen gezügelt, und zwar in den Eingangsbereich des Museums.
Nach der Rückkehr Leoncavallos von der Aufführung des „Rolando“ in Berlin erhoben ihn die Brissagheser feierlich zu ihrem Ehrenbürger. Ein Jahrzehnt später brach der Erste Weltkrieg aus, für den der Hohenzoller Wilhelm II. seine Mitverantwortung zu tragen hat und der ihn sowie sein Geschlecht schliesslich 1918 des Throns (und die aller seitherigen Kritik zum Trotz bemerkenswerte Oper - im Jahr 1987 von Fritz Weiss in Berlin konzertant wiederaufgeführt - leider ihrer Aktualität) beraubte: Der mittelalterliche Roland, ein fränkischer und auch etwas zänkischer, bei Bedarf kämpferisch-dreinschlagender Ritter, eben halt dem karolingischen Ehrenkodex seiner Zeit folgend, kann dafür nichts...
Im nördlichen und nordöstlichen Deutschland stehen, oft auf Marktplätzen, rund zwei Dutzend noch erhaltene meist sandsteinerne Roland-Standbilder
beziehungsweise -Säulen, so in Brandenburg an der Havel, in Halberstadt, Halle, Magdeburg, Perleberg, Quedlinburg, Stendal und – wohl die schönste –
in Bremen. Sie datiert, als Nachfolgerin eines hölzernen Roland, vom Jahr 1404 und ist mit dem Rathaus zusammen im Juli 2004 ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen worden. Insgesamt allerdings werden über 250 wirkliche oder auch angebliche Rolande gezählt
(vielleicht gibt es sogar einen am Zürcher Grossmünster); es stehen welche auch ausserhalb Deutschlands, so in Dubrovnik, Prag, Riga und Verona, ja
sogar in Südamerika wie etwa im brasilianischen Rolandia. Und dann gibt es eben den Roland in Brissago, jetzt vor dem Museo Leoncavallo, eine
gedrungene, gegen zwei Meter hohe grossfussige Sandsteinfigur mit Topfhelm, Harnisch, Mantel, Schwert (Durendart) und Hifthorn (Olifant). Der "Roland"
auf der Stirnseite des Zürcher Grossmünsters hat sich hingegen als der Leibhaftige in Gestalt eines wilden Jägers erwiesen. Ein Foto zeigt Ruggero Leoncavallo vor dem repräsentativen Brunnen mit der Rolandsäule in Berlin auf dem Kemperplatz, also dem „Berliner Roland“ vom Jahr 1902, der im
Zweiten Weltkrieg leider zerstört und ein paar Jahre später ganz abgetragen wurde. Der Brissagheser Roland ist dem Berliner Roland ähnlich, weshalb
ersterer entweder eine kleinere Version des so genannten „Tiergarten-Roland“ oder aber eine Vorstudie sein könnte. In Berlin steht heute eine Kopie des
Brandenburger Rolands.
Der Roland ist eine mythische Rittergestalt aus der Sagenwelt des westeuropäischen Mittelalters. Er könnte bereits einer der 12 legendären Gralsritter am Hofe
des keltisch-britannischen Königs Artus gewesen sein (Artus-Legenden), oder dann eben einer der zwölf Paladine (Pairs) Kaiser Karls des Grossen, ja sogar
dessen Neffe (vgl. Einhard, Vita Caroli Magni). Wie die Ritter des Königs Artus sind auch die Ritter Karls des Grossen in die Weltliteratur
eingegangen: Das altfranzösische Chanson de Roland vom Anfang des 12. Jahrhunderts begründete den Ruhm des bretonischen Grafen Hrolandus (Hruodlandus,
Hruotland), der im Gefecht bei Roncevaux (Roncesvalles) in Spanien, nach Kämpfen gegen die Sarazenen, im Jahr 778 in einen baskischen Hinterhalt
geriet und dabei, von seinem treuen Pferd Veillantif abgestiegen, nach tapferer Gegenwehr ums Leben kam.
Der geistliche Dichter Konrad „der Pfaffe“ (Corrado il Prete) hat davon um die Mitte des
12. Jahrhunderts eine deutsche Fassung im Sinn christlicher
Legendenbildung (Kampf gegen die muslimischen Sarazenen) erstellt. Und auch
in die italienische Literatur ist Roland (allerdings in anderer "Funktion") eingegangen: Matteo Maria Boiardo
schuf im 15. Jahrhundert den Orlando innamorato, der dann mit dem
berühmten Orlando furioso des Ludovico Ariosto – später eine
Opernvorlage für Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel – als Höhepunkt der Renaissance-Dichtung
eine Fortsetzung fand; im Jahr 1782 komponierte Joseph Haydn seine Oper
Orlando paladino (Der Ritter Roland).
Ob nun die wackere geharnischte Rittergestalt mit Durendart und Olifant auf und an den
diversen Säulen wirklich der edle und tapfere, aber auch hitzige Roland von
Roncevaux ist – so genau weiss man dies allerdings nicht. Aber wer schon
sonst sollte denn diese christlich inspirierte Heldengestalt sein, idealisierter Verteidiger des Glaubens, Leitbild für die Kreuzzüge? Er passt
ja recht genau in seinem ganzen Gestus in die Zeit Karls des Grossen hinein, des
Charlemagne der Franzosen, hinein. Er steht für stolzen Mut, für
Gerechtigkeit, für Eigenständigkeit, für bürgerliche Freiheit. Und da ihn
die aufstrebenden Städte der frühen Neuzeit in ihrem Bestreben, sich von der
Bevormundung durch Fürsten, Adel und Kirchenhierarchie zu lösen, auf ihre
zentralen Marktplätze stellten, dürfte er bis heute dort stehen für das
gewachsene Selbstbewusstsein des Bürgertums, gewissermassen als Schutzpatron
für autonom ausgeübte Gerichtsbarkeit, für die gewonnenen Marktrechte und
anderen Handelsprivilegien, generell eben für die gemeindeeigenen Rechte und
Freiheiten.
In diesem Sinn
war die Rolandfigur damals als – allerdings durchaus christlicher –
Volksheld ein Freiheitssymbol wider weltliche und geistliche Bevormundung.
Das der Legende gemäss dem Kaiser von einem Engel überbrachte Schwert Durendart (Durandarte),
damit er es dessen bestem Paladin, einem (aus
romantisierter Sicht) Ritter „ohne Fehl und Tadel“, im Kampf gegen die
Heiden überreiche, kann auch als Schwert des Paulus interpretiert werden,
wie es im rechten Chorfenster der Kirche Peter und Paul in Brissago zu sehen
ist; oder einfach als Symbol der öffentlichen Gerichtsbarkeit, der Justizia.
Bedenken wir nun, dass sich auch Brissago bereits in seinen spätmittelalterlichen Zeiten,
vom 13. bis l6. Jahrhundert, eigene autonome Statuten (Statuti), d.h.
eine eigene Verfassung als gewissermassen „reichsunmittelbare Republik“,
gegeben hat, so mag der nunmehr restaurierte brissaghesische Roland –
immerhin der einzige „gesicherte“ im Raum der Schweiz – auch für eine
bedeutsame Vergangenheit des Orts am Lago Maggiore stehen; und dazu für ein
gewichtiges Stück italienischer, französischer und deutscher Literatur- und
Musikgeschichte. Wenn er also fürderhin hier vor dem von selbstbewussten
Brissaghesern errichteten barocken Palazzo wacht, so ist dies nicht ohne
tieferen Sinn.
Schliesslich
zum Inhalt der von Richard Wagner und Jules Massenet, aber eben auch, mit Giuseppe Verdi,
Italianità verströmenden, reich orchestrierten Leoncavallo-Oper „Der Roland
von Berlin“ in Kürze: Sie spielt, auf Grund einer Dichtung eines Willibald
Alexis, aber gemäss dem Libretto des Komponisten, im Jahr 1442, zu Beginn
der Regentschaft des Hohenzollern Friedrichs II. „des Eisernen“
(1440-1470), des zweiten brandenburgischen Kurfürsten. Friedrich (Federico)
versucht, zwischen den privilegierten Adligen und der aufstrebenden
Handwerkergilde, der er zu ihrem Recht zu verhelfen sucht, zu vermitteln. In
diesen historischen Hintergrund, in dem es auch um die ständige Rivalität
der Städte Alt-Berlin und Alt-Cölln geht (zu dem jedoch auch der niedergeschlagene
Aufstand von 1448 gegen Friedrich gehört), ist die Liebe zwischen Henning
Mollner, dem Webermeister, der seiner ritterlichen Tapferkeit wegen als
Anführer der Revolte „Roland“ genannt wird, und Elsbeth (Alda) eingebettet, der
Tochter des patrizischen Bürgermeisters von Rathenow, die jedoch die Standesschranken nicht zu beseitigen vermag. Die beiden können sich
jedoch nicht finden, und Henning, dem die Doppelstadt seit langem Geld
schuldet, verliert im Handgemenge "irrtümlich" sein Leben . Der
Kurfürst jedoch erhebt, ehrt ihn postum zum Ritter und ehrt in damit als Helden, der für eine gerechte Sache gefochten
habe. Das das Roland-Standbild als Symbol der städtischen Gerichtsbarkeit allerdings lässt der Kurfürst (leider) stürzen. Das Opfer der Ehre und der Liebe ist dennoch nicht umsonst erbracht: Brandenburg und Berlin werden unter den Hohenzollern fürs Erste einmal aufblühen...
...
Der „Roland von Brissago“ allerdings fordert auf, mit dem Besuch des von Hildegarde Freifrau
von Münchhausen gestifteten Museums dem zwei Jahrzehnte lang mit Brissago
verbundenen neapolitanischen Komponisten Ruggero Leoncavallo, Schöpfer des
unvergänglichen „Bajazzo“, die Ehre zu erweisen!
Fondazione Ruggero Leoncavallo
Gustav A. Lang, Brissago 2018